Mittwoch, 29. Dezember 2010

Tränenreich

"Jeden Tag werden in Deutschland so viele Tränen vergossen, dass man damit 40 Badewannen füllen könnte."
Aus einer Sendungsankündigung des Hessischen Rundfunks

Schattenbild


Im Stiegenhaus des Lutherhofes.

Montag, 6. Dezember 2010

Im Gestern gefangen

"(...) Und die Wiener Philharmoniker? Erweisen sich definitiv als old school. Tief verwurzelt in der Tradition, ein Markenprodukt seit 1842, in Sachen Imagepflege eindeutig festgelegt auf die gute alte Zeit. Auch wenn Simon Rattles Musiker nicht müde werden zu betonen, wie freundschaftlich sie den Kollegen aus Österreich verbunden sind – mit dem Gastspiel in der Philharmonie wagen sich die Wiener in die Höhle des Löwen.
Am ersten Abend lässt man sich noch gerne beeindrucken vom raumgreifenden Streicherklang des Orchesters. Doch spätestens am zweiten Abend fällt unangenehm auf, dass hier etwas mit der Klangbalance nicht stimmt. Die Holzbläser werden vom sahnigen Sound der Saiteninstrumente nämlich konsequent untergebuttert. Vor allem die ersten Violinen machen unmissverständlich klar, warum sie in Österreich Primgeiger genannt werden. Sie drängen sich konsequent in den Vordergrund, selbst dann, wenn sie nur Begleitfiguren zu spielen haben. Kollegial ist das nicht. Und meilenweit entfernt vom Ideal des Aufeinander-Hörens, das die Berliner Philharmoniker seit der Ära Claudio Abbados pflegen.
Dass sich am Ende eines solchen Zyklus’ Erschöpfung breitmacht, dass Hörner kieksen oder ein Streichereinsatz mal schlierig klingt – geschenkt. Doch was ihre geistige Grundhaltung betrifft, müssen die Wiener Philharmoniker höllisch aufpassen, nicht ins Museale abzugleiten. In Berlin gibt es mindestens drei Orchester, die derzeit spannender klingen: Das DSO ist in seinen besten Momenten präziser im Zusammenspiel, die Staatskapelle im Tutti ausgewogener, und Simon Rattles Orchester deutlich wendiger, wacher, stilistisch flexibler.
Die Wiener musizieren, wie sich ihre Heimatstadt anfühlt: im Gestern gefangen. Nun ist es ja nicht so, dass die kollektive K.u.k-Nostalgie keinen Charme hätte. Vier Konzerte lang lässt sich ein Klang aus fernen Zeiten durchaus mal genießen in der Philharmonie – mit der Gewissheit, dass ab Donnerstag hier wieder die Heim-Mannschaft aufspielt. Nach allen Regeln der new school."

Aus: Frederik Hanssen, Heldengeschichten aus dem Wiener Wald, Kritik des Berliner Beethovenzyklus der Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann im "Tagesspiegel"

Sonntag, 5. Dezember 2010

Euthanasie, Hedonismus, Menschenwürde

"Es geht uns zunehmend gar nicht mehr ums Leben selbst, sondern um Wohlbefinden. Das oberste Gesetz unserer Gesellschaft ist heute: Wohlbefinden vermehren, Leiden vermeiden. Aber wenn dies unser oberstes Prinzip ist, hat das ganz brutale Folgen. Und sie betreffen nicht nur unseren Umgang mit Embryonen, sondern auch mit dem Thema Sterbehilfe. In Holland werden heute schon Leute ohne ihre Zustimmung zu Tode befördert. Man muss sich klar machen, in welche Richtung sich das entwickeln kann. Goebbels hat damals sein Euthanasieprogramm mit „Ich klage an“ vorbereitet, einem Film, der übrigens nur mit Mitleid operiert: Eine kranke Frau bittet darum getötet zu werden und ihr barmherziger Mann tut das schließlich. Am Ende wird er vor Gericht angeklagt, der Sinn des Filmes war es, das Gesetz anzuprangern, das Sterbehilfe unter Strafe stellt. Goebbels wollte damit freie Bahn für die Massentötung schaffen. Aber es begann mit dem hedonistischen Argument, mit Mitleid.
Für uns ist der Sinn des Lebens heute, Träger angenehmer Gefühle zu sein. Wenn es das nicht mehr ist, dann hat es zu verschwinden. Man versucht dem Leidenden zu helfen, aber wenn das nicht mehr gelingt, dann beseitigt man ihn.

(...)

An den Rändern des Lebens [...] kann es passieren, dass das Ziel des maximalen Wohlbefindens nicht mehr erreichbar ist. Dass das Leben als Träger freudiger Gefühle nicht mehr funktioniert, egal was man tut. Aber genau an diesem Punkt erweist sich eben, ob man begriffen hat, was die Würde des Menschen heißt.

(...)

Kant sagt ganz richtig: Der Mensch hat keinen Wert, sondern eine Würde. Werte sind gegeneinander abwägbar, die Würde nicht. Darum kann man sagen: Die Grundrechte konkurrieren gelegentlich miteinander, dann muss man sie gegeneinander abwägen. Wissenschaftsfreiheit impliziert zum Beispiel nicht das Recht, fremdes Leben zu verwerten und zu vernichten. Aber die Würde des Menschen selbst lässt sich mit nichts anderem abwägen. Überhaupt wird bei uns viel zu viel von Werten geredet. Da braucht nur jemand mit einem anderen Wertesystem kommen, und schon können wir uns die Ganzen Überlegungen sparen. "

Der Philosoph Robert Spaemann in einem Interview mit der Zeitschrift "Cicero"

Die verhallende Stimme eines alten Mannes von gestern, so kommt es mir vor. Die Zeit geht darüber hinweg - oder ist es schon, aber das ist nicht zum Guten.

Freitag, 3. Dezember 2010

Museumsquartier





Schwierigkeiten des Christseins im Alltag

"Liebst du Jesus?
Komisch, dass 100 Euro nach so viel aussehen, wenn Du sie der Kirche gibst, aber so wenig, wenn Du damit einkaufen willst.
Komisch, wie lange es dauert, Gott für eine Stunde zu dienen, aber wie schnell 60 Minuten Fußball vergehen.
Komisch, wenn uns nichts einfällt, was wir beten können, aber wir unseren Freunden immer etwas zu erzählen wissen.
Komisch, wie schwer es ist, ein Kapitel in der Bibel zu lesen, aber wie leicht es ist, 100 Seiten eines Bestsellerromans zu verschlingen.
Komisch, wie sich Leute auf einem Konzert um die vordersten Plätze bemühen, und sich um einen der hintersten Plätze in der Kirche drängeln.
Komisch, dass wir 2 oder 3 Wochen Vorwarnung brauchen, um ein kirchliches Ereignis in unseren Plan zu bringen, ihn für andere Ereignisse aber im letzten Augenblick umändern können.
Komisch, wie schwer es Menschen fällt, die Gute Nachricht weiterzugeben, aber wie leicht es ist, den neusten Klatsch und Tratsch weiterzuverbreiten.
Komisch, wie wir der Zeitung glauben, aber in Frage stellen, was die Bibel sagt.
Merkwürdig, wie leicht es für Menschen ist, Gott zu leugnen, und sich dann wundern, warum die Welt zur Hölle wird.
Merkwürdig, dass jeder in den Himmel will, doch annimmt, man brauche nicht zu glauben, zu denken, zu sagen oder zu tun, was in der Bibel steht!
Merkwürdig, wie jemand sagen kann: "Ich glaube an Gott", aber dennoch dem Teufel folgt.
Merkwürdig, wie das Obszöne, Vulgäre, Gewalttätige und Okkulte frei den Cyberspace passieren kann, aber eine öffentliche Diskussion über Jesus in den Schulen und am Arbeitsplatz unterdrückt wird.
Merkwürdig, wie jemand so entbrannt sein kann für Jesus im Gottesdienst, aber ein unsichtbarer Christ im Rest der Woche ist.
Merkwürdig, wie ich mehr besorgt darüber sein kann, was andere Leute von mir denken, als was Gott von mir denkt.
(…)
Merkwürdig, wie leicht es den Menschen fällt, Gott einfach in den Papierkorb zu tun! Ohne IHN bin ich nichts, aber mit IHM kann ich alle Dinge tun, weil er mich stark macht. (Phil. 4,13)"
Aus einer Massenmail in Art eines Kettenbriefes, und trotzdem sehr zum Nachdenken anregend. 

Donnerstag, 2. Dezember 2010

112 Jahre Lutherkirche


Den ganzen Tag grübelte ich über das Datum: Was hat es nur auf sich mit dem 2. Dezember?
Bei der abendlichen Bibelstunde fiel es mir ein: Heute vor 112 Jahren wurde die Lutherkirche eingeweiht.

Farbe im grauen Dezember


Manchmal ist Werbung doch beglückend...

Dienstag, 30. November 2010

Der uns besser kennt als wir uns selbst

"Gott ist so willig und bereit zu erhören, dass er, noch ehe sie rufen, schon die Wünsche des Herzens erhört. Ja, Gott hat es eiliger zu hören, als jene es haben zu rufen."
Martin Luther

Abendstimmung im 19.



Der November bescherte uns einen sonnigen Spätherbst.

Beschleunigung

Wie steht's?
Es geht.
Wie geht's?
Es läuft.
Wie läuft's?
Es rennt.

Lebensspuren am Eck

Tür einer nicht mehr betriebenen Kneipe in Gersthof.

Die Botschaft hör ich wohl...

"Ich nehme bei jungen Menschen eine neue Offenheit für, ja, eine Neugier auf Religion wahr. Das bezieht sich auch auf die christliche Botschaft, die Rituale der Kirche und die Vollzüge der alltäglichen Frömmigkeit. Diese jungen Leute zwischen 15 und 35 müssen sich von niemandem absetzen. Sie sind unbefangen, unbelastet, ohne Vorurteil. Und wir brauchen nur auf die Kraft unserer heiligen Texte, Rituale und Vorbilder zu vertrauen."


Der scheidende Präsident des EKD-Kirchenamts Hermann Barth im epd-Interview

Sollte in Deutschland alles so anders sein als in Österreich? Eine erstaunliche Aussage.

Blick von Michelbeuern hinüber nach Spittelau

Montag, 29. November 2010

Die Frage nach dem Subjekt

  "Ich meine (...), daß sich oft das Tiefsinnigste unsers Wesens, jene noch unsichtbaren Gedanken zuweilen in Bilder umsetzen, deren sich dann der Traum bemächtiget, um unser ganzes Sein von Grund aus zu erschüttern."
  "Aber", sagte der Baron, "spielen wir selbst mit uns, oder mischt eine höhere Hand die Karten?"
  "Vielleicht", antwortete der Jüngling mit bedenklicher Miene, "läuft in den recht wichtigen Lebensmomenten beides auf eins hinaus." - Er schien von dieser Vorstellung selbst überrascht zu werden.

Ludwig Tieck (Die Gesellschaft auf dem Lande)

Esoterisch angehaucht?

Motiv auf den Servietten der Cafeteria des Evangelischen Gymnasiums Wien. Vielleicht ein Fall für die Weltanschauungsbeauftragte?

Mittwoch, 24. November 2010

Katholische Kirche

"Die Neuerung kann noch so revolutionär sein, nie darf sie im Verhältnis zur Tradition als Bruch erscheinen; der Aufweis der Kontinuität ist das A und O jedes kirchenamtlich autorisierten Umsturzes. "


Aus dem FAZ-Artikel von Christian Geyer: Wirklich keine Revolution? Der Papst und die Kondomfrage

Poesie in der Auslage

(Schaufenster einer Glasmanufaktur im Grätzel.)

Donnerstag, 18. November 2010

Widerspruch

"Die Dämonie des modernen Lebens bringt es mit sich, daß die Seele fast nur noch passiv wird, nur noch fähig, Eindrücke aufzunehmen, freilich nicht bis hinein in ihre letzten Tiefen, sondern nur bis zur Oberfläche, von wo sie in irgendwelchen Reaktionen wieder zurückgeworfen werden. Unter all den Eindrücken, den Stimmungen, den Zerstreuungen, den Sensationen — es lohnt sich, dem ursprünglichen Sinngehalt all dieser Ausdrücke nachzugehen! —, geht die ursprüngliche Kraft der Seele verloren, selbst schöpferisch zu sein, aktiv, nicht nur reaktiv, ein Licht, nicht nur ein Spiegel, eine Quelle, nicht nur ein Gefäß. Daher ist auch die Produktivität des modernen Menschen zum allergrößten Teil eine Scheinproduktivität, ein Feuerwerk, das versprüht, ein Fluoreszieren, das weder leuchtet noch wärmt. Was da verlorengeht, das ist nicht nur eine zwar bedeutsame, aber schließlich entbehrliche Seite unsrer inneren Veranlagung, sondern ein Stück unsrer Gottebenbildlichkeit, ja im Grunde diese selbst."

Erich Schick: Seelsorge an der eigenen Seele. Geistliche Lebensregeln zur inneren Ordnung, Hamburg 1963, S. 96

Dienstag, 9. November 2010

Wir sind Menschen, keine Engel

Sehr natürlich, wir sind Menschen und keine Engel. Wir können und sollen jetzt noch nichts anderes als Menschen seyn. Die Wahrheit ist nicht ferne von uns; sie liegt aufgedeckt in unsrer Mitte, der Engel schaut sie da mit leichtem Blick, wo wir sie mühsam suchen und finden. Aber uns mangelt als Menschen die Fähigkeit sie zu bemerken und zu unserem Eigenthum zu machen. Das irdische Auge sieht sie nicht, denn der unvollkommene Verstand würde sie doch nicht fassen; der Verstand faßt sie nicht, denn das sinnliche Herz würde ihren hohen Werth doch nicht fühlen; das Herz fühlt sie nicht, denn unsere schwache Kraft würde sie doch nicht zur Weisheit und Glückseligkeit benutzen dürfen.


Johann Peter Hebel, aus einer Predigt vom 21. April 1793

Samstag, 6. November 2010

In einer Auslage gesehen

Nicht nur ein österreichisches Problem

"Die Studie zeigt, dass muslimische Jugendliche viel mehr Religion mitbekommen als einheimische aus (ehemals) christlichen Familien. Muslime werden beeinflusst, aber schwimmen nicht wie der Rest mit im mächtigen Strom der pluralistischen Gesellschaft, der feste religiöse Identitäten bleicht und auswäscht. 
Junge Muslime haben, so sehr ihre Tradition durch die Moderne erschüttert wird, an der Religion Mohammeds noch mehr Halt als ihre westeuropäischen Altersgenossen am Christentum. Dieser Unterschied, von Land zu Land anders ausgeprägt, trägt zur diffusen Befürchtung bei, dass Europa die Islamisierung droht. Und führt auch dazu, dass junge Westeuropäer sich zunehmend vor Fremden in Acht nehmen. 
Die Kirchen müssen im Traditionsabbruch ihr Versagen konstatieren: In der Nachkriegszeit sind die Väter und Mütter Westeuropas mehrheitlich dazu übergegangen, ihre Kinder nicht mehr religiös zu unterweisen, sondern ihnen die Religion freizustellen. Es verwundert nicht, dass ein grosser Teil der Sprösslinge nicht mehr im Glauben der Vorfahren zu Hause ist und auch seinen identitätsstiftenden Sinn nicht mehr kennt. Denn schon die Eltern sind ungläubig; sie sind Agnostiker und praktizierende Atheisten, dem Kult des Wohlstands und Wohlergehens verpflichtet. "

Herbstabend auf der Riegersburg

Dienstag, 2. November 2010

Der Tod: Immer in Eile

„(…) so zeitlos der Tod ist, nie hat er Zeit. Kaum gemordet, schon weiter. Was man ihm nachruft, verhallt; sein Schädel ist ohrlos, sei­ne Hirnschale nur mit den Argumenten des Moders ge­füllt. Kein sehr vertrauenswürdiger Gehilfe, dessen der Ewige sich hier bedient, sein Werk zu vernichten; es ge­lingt mir schon lange nicht mehr, diese Wahl anzuer­kennen; sie ist seiner unwürdig, von Anfang an.“

Wolfdietrich Schnurre [Ein Unglücksfall 8f.]

Mittwoch, 27. Oktober 2010

Und in zwei Monaten ist Weihnachten vorbei

Rechtfertigung

Die zentrale theologische Erkenntnis Martin Luthers von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden ist heutzutage ausgesprochen schwer zu vermitteln. Was sind in heutiger Sprache und Vorstellungswelt Äquivalente zu „gerecht vor Gott“? Sinn des Lebens, gelingendes Leben, gutes Leben, Erlösung?
Martin Luthers Grundfrage „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ ist heute kaum noch verständlich. Es gibt keine Angst mehr vor Hölle und Verdammnis – wie auch umgekehrt der Glaube als etwas vielleicht innerweltlich Bedeutsames gesehen wird („Gläubige leben gesünder, bei ihnen heilen die Wunden schneller usw.“), aber welcher Gläubige misst heute dem Glauben auch über den Horizont des Todes hinaus noch wirkliche Bedeutung bei? Ist es nicht so, dass die meisten Christen in ihrem Glauben einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel unterliegen, der das Jenseits, das Geschick nach dem Tode weitgehend ausblendet?   

Dienstag, 26. Oktober 2010

Wie heißt diese Gasse nur?

Nicht nur in Deutschland, nicht nur vor fünfundvierzig Jahren...




Sonntags in der kleinen Stadt,
wenn die Spinne Langeweile
Fäden spinnt und ohne Eile
giftig-grau die Wand hochkriecht,
wenn's blank und frisch gebadet riecht,
dann bringt mich keiner auf die Straße,
und aus Angst und Ärger lasse
ich mein rotes Barthaar stehn,
lass den Tag vorübergehn,
hock am Fenster, lese meine
Zeitung, decke Bein mit Beine,
seh, hör und rieche nebenbei
das ganze Sonntagseinerlei.
Tada-da-da-dam...

Da treten sie zum Kirchgang an,
Familienleittiere voran,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich vorwärts schieben,
weil die gern zu Hause blieben.
Und dann kommen sie zurück
mit dem gleichen bösen Blick,
Hütchen, Schühchen, Täschchen passend,
ihre Männer unterfassend,
die sie heimlich heimwärts ziehn,
daß sie nicht in Kneipen fliehn.
Tada-da-da-dam...

Wenn die Bratendüfte wehen,
Jungfrauen den Kaplan umstehen,
der so nette Witzchen macht,
und wenn es dann so harmlos lacht,
wenn auf allen Fensterbänken
Pudding dampft, und aus den Schenken
schallt das Lied vom Wiesengrund
und daß am Bach ein Birklein stund,
alle Glocken läuten mit,
die ganze Stadt kriegt Appetit,
das ist dann genau die Zeit,
da frier ich vor Gemütlichkeit.
Tada-da-da-dam...

Da hockt die ganze Stadt und mampft,
daß Bratenschweiß aus Fenstern dampft.
Durch die fette Stille dringen Gaumenschnalzen,
Schüsselklingen, Messer, die auf Knochen stoßen,
und das Blubbern dicker Soßen.
Hat nicht irgendwas geschrien?
Jetzt nicht aus dem Fenster sehn,
wo auf Hausvorgärtenmauern
ausgefranste Krähen lauern.
Was nur da geschrien hat?
Ich werd so entsetzlich satt.
Tada-da-da-dam...

Wenn Zigarrenwolken schweben,
aufgeblähte Nüstern beben,
aus Musiktruhn Donauwellen
plätschern, über Mägen quellen,
hat die Luft sich angestaut,
die ganze Stadt hockt und verdaut.
Woher kam der laute Knall?
Brach ein Flugzeug durch den Schall?
Oder ob mit 'm Mal die Stadt
ihr Bäuerchen gelassen hat?
Die Luft riecht süß und säuerlich.
Ich glaube, ich erbreche mich,
Tada-da-da-dam...

Dann geht's zu den Schlachtfeldstätten,
um im Geiste mitzutreten,
mitzuschießen, mitzustechen,
sich für wochentags zu rächen,
um im Chor Worte zu röhren,
die beim Gottesdienst nur stören.
Schinkenspeckgesichter lachen
treuherzig, weil Knochen krachen
werden. Ich verstopf die Ohren
meiner Kinder. Traumverloren
hocken auf den Stadtparkbänken
Greise, die an Sedan denken.
Tada-da-da-dam...

Dann ist die Spaziergangstunde,
durch die Stadt, zweimal die Runde.
Hüte ziehen, spärlich nicken,
wenn ein Chef kommt, tiefer bücken.
Achtung, daß die Sahneballen
dann nicht in den Rinnstein rollen.
Kinder baumeln, ziehen Hände,
man hat ihnen bunte, fremde
Fliegen - Beine ausgefetzt -
sorgsam an den Hals gesetzt,
daß sie die Kinder beißen solln,
wenn sie zum Bahndamm fliehen wolln.
Tada-da-da-dam...

Wenn zur Ruh die Glocken läuten,
Kneipen nur ihr Licht vergeuden,
wird's in Couchecken beschaulich.
Das ist dann die Zeit, da trau ich
mich hinaus, um nachzusehen,
ob die Sterne richtig stehen,
Abendstille überall. Bloß
manchmal Lachen wie ein Windstoß
über ein Mattscheibenspäßchen.
Jeder schlürft noch rasch ein Gläschen
und stöhnt über seinen Bauch
und unsern kranken Nachbarn auch.
Sonntags in der kleinen Stadt,
sonntags in der deutschen Stadt.


Franz-Josef Degenhardt

Ohne Worte

Auch eine Jugenderinnerung

Ich möchte Weintrinker sein,
mit Kumpanen abends vor der Sonne sitzen
und von Dingen reden, die wir gleich verstehn,
harmlos und ganz einfach meinen Tag ausschwitzen
und nach Mädchen gucken, die vorübergehn.
Ich möchte Weintrinker sein.

Ich möchte Weintrinker sein,
und nicht immer diese hellen Schnäpse saufen,
nicht von Dingen reden, die nur mich angehn,
mir nicht für zwei Gläser Bier Verständnis kaufen,
nicht mit jenen streite, die am Tresen stehn.

Ich möchte Weintrinker sein,
bei´nem herben Roten oder leichten Weißen
um´ne Runde spielen, nach der keiner fragt,
ein paar Witze über den Verlierer reißen,
der ganz einfach nur darüber lacht.

Ich möchte Weintrinker sein,
nicht beim Schnaps um Zehntel Skat mit Hirschbock spielen,
wo man gierig Geld in seine Tasche wischt,
nicht dem nachbarn heimlich in die Karten schielen,
ihn nicht schlagen, wenn er sich zwei Asse mischt.

Ich möchte Weintrinker sein,
mit Kumpanen lachend ein paar Lieder singen,
die sich um Trinken, Mädchen und um Liebe drehn,
nebenbei ein bisschen reden von den Dingen,
die am tag in einer kleinen Stadt geschehn.

Ich möchte Weintrinker sein,
nicht ab Mitternacht "Frau-Wirtin-Verse" grölen,
kein Soldatenlied und nicht den "Tag des Herrn",
und nicht vom "Mitelabschnitt" irgendwas erzählen
und nichts von Hungerpest in Hongkong hör´n.

Ich möchte Weintrinker sein,
auf dem nachhauseweg wie Kinder darauf achten,
dass man beim Bürgersteig nicht auf die Ritzen tritt,
und im Bett dran denken, wie die Mädchen lachten,
und im Schlaf noch lachen über meinen Schritt.
Ich möchte Weintrinker sein.



Franz-Josef Degenhardt

Wien, wie es sudert und lacht (Haderer)

Samstag, 23. Oktober 2010

U-Bahn-Impression

Auszehrung, Sinnleere

„In einer sich immer mehr säkularisierenden christlichen Gesellschaft wie der deutschen, in der Kirchen verfallen oder in Restaurants und andere ‚nützliche‘ Einrichtungen umgewidmet werden (im Sowjetkommunismus war dies Programm), herrscht ein verbreitetes Gefühl spiritueller Schwäche, Auszehrung, ja Sinnleere.“

Wolfgang Günter Lerch, Journalist und Orientalist, in der F.A.Z.

Mittwoch, 20. Oktober 2010

Montag, 11. Oktober 2010

Lutherkirche im Herbstsonnenschein

Eine Krankheit, die man gerne hat

"Der Unternehmer Hans Staud ist das, was man einen waschechten Wiener nennt: halb Steirer, halb Wiener, mit tschechischen und ungarischen Wurzeln. Wien ist für ihn 'wie eine Krankheit, die man gerne hat. Wenn man im Ausland ist und nach ein, zwei Wochen zurückkommt, merkt man erst, was einem gefehlt hat'."


Aus dem Kurier

Sonntag, 10. Oktober 2010

Migration in der Nachbarschaft


Befristet

"Wir leben das Leben besser, wenn wir es so leben, wie es ist, nämlich befristet."

Peter Noll

Seufzender Gedanke


Ach, Jesus! Was sagst du nur zu uns? Sind wir noch deine Nachfolger? 

Unangenehm

Weil er Geld brauchte, ging er zur Pfandleihe, erwies sich aber als völliger Pfandlaie.

Aus unserer Kirche


Detail aus dem Gedenkbild für die Gefallenen des I. Weltkrieges in der Lutherkirche.

Gemeinde-Flow

Die Gemeinde frisst mich auf mit Haut und Haar. Gerade, dass eben noch Zeit zum Essen und Schlafen bleibt. Es ist einfach wunderbar, ein einziger Flow. (Vgl. Mihaly Csikszentmihaly: Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile im Tun aufgehen. 8., unv. Aufl. [Übers., Beyond Boredom and Anxiety - The Experience of Play in Work and Games, 1975], Stuttgart: Klett, ISBN 3-608-95338-8)

In der Straßenbahn auf dem Weg zur Schule

Am besten gar nicht mehr wundern

Konfirmandenanmeldung: Worüber soll man sich mehr wundern, dass ein 13-Jähriger seine eigene Adresse nicht weiß oder dass ein anderer mit dem Wort "Anschrift" auf dem Formular nichts anzufangen weiß?

Doch kein Gekreuzigter...


... wie ich im ersten Moment dachte...

Sind Protestanten religionsfähig?

"Für den stark an wissenschaftlichen Diskursen orientierten Protestantismus stellt sich vor allem die Aufgabe, seine eigene Religionsfähigkeit zurückzugewinnen. Er mag am ehesten Intellektuelle mit westeuropäischen Bildungsstandards ansprechen. Aber es stellt sich insgesamt die Frage, wieweit er Rationalität zu seinem Markenzeichen machen will. Überspitzt möchte ich formulieren: Die Menschen sind religiös empfänglich wie eh und je. Aber will die evangelische Kirche es sein? Auf dem emotional-spirituellen Brachland gewinnen, durch die überstarke intellektuelle Orientierung der Kirche, ungebremst spirituell-emotional orientierte Religionsvertreter an Boden."


Sabine Bobert: Bestattungskultur aus protestantischer Sicht, in: Klaus Grünwaldt/Udo Hahn (Hg.): Vom christlichen Umgang mit dem Tod. Beiträge zur Trauerbegleitung und Bestattungskultur, © Lutherisches Kirchenamt, Hannover 2004, 2., verb. Auflage 2005, S. 79.

Begrüßungsnachmittag für die neuen Konfis




Montag, 27. September 2010

Seit Jahresbeginn 725 Katastrophen

""Die weltgrößte Rückversicherung Munich Re warnt vor den Gefahren des Klimawandels.  Die aktuelle Häufung von Wetterextremen, wie die Hitzewelle in Russland und die Überschwemmungen in Pakistan, seien ein starkes Indiz dafür, dass sich das Klima verändere, teilte das Unternehmen in München mit. Seit Jahresbeginn seien weltweit 725 Katastrophen registriert worden, die mit dem extremen Wetter in Zusammenhang stünden. Dies sei die zweithöchste Zahl für diesen Zeitraum seit 1980. Insgesamt starben von Januar bis September dadurch rund 21.000 Menschen, die Schäden summierten sich auf mehr als 65 Milliarden Dollar.


Aus den Abendnachrichten des DLF vom 27.9.2010. Jetzt geht es ans Geld, da kann niemand mehr sagen, das mit dem Klimawandel sei eben nur ein Schmäh.

Dienstag, 7. September 2010

Resumee

„Es war nicht mein Tag. Meine Woche. Mein Monat. Mein Jahr. Mein Leben. Scheiße.“ Charles Bukowski

Hör mir nur zu

Das Licht laut denken!
Lass mich sprechen!

Nein, hör mich nicht an,
hör mir nur zu.

Lass die Wellen des Schalls meiner Stimme
anlanden am Ufer deiner Seele.

Versteh mich nicht.

Versuch es erst gar nicht.

Ich will nicht verstanden sein.

Wer verstanden ist,
ist abgehakt.

Hör mir nur zu.

Gut abgesichert...


Der Christus über dem Hauptportal unserer Kirche - zum Schutz gegen Tauben und andere Verschmutzungen hinter einem Gitter. Wahrscheinlich ist das sehr sinnvoll. Aber es ist auch ein trauriges Sinnbild unseres Verhältnisses zu ihm. 

Kann ein Krawallmacher ein "Geschichtszeichen" setzen?

“Es gibt sehr viele Parallelgesellschaften in Deutschland, beispielsweise die Politiker, die meines Erachtens auch in einer Parallelgesellschaft leben. … Sie sind doch auch meiner Meinung, Herr Wowereit, daß man Kenntnisse über Deutschland nicht über Herumschlendern finden kann. Und man kann eben leider Gottes auch die Diskussion, um die es hier geht, die ja offensichtlich Millionen Menschen brennend interessiert, nicht lösen, in dem man Einzelpersonen vorführt, die wunderbar integriert sind - hübsch, intelligent und toll sind - sondern es geht schon um Strukturprobleme. Diese Strukturprobleme sind offenbar so gravierend, daß wir es im Moment mit einer Situation zu tun haben, dass fast die Mehrheit der Bevölkerung dankbar dafür ist, daß ein Krawallmacher - nennen wir ihn ruhig einen Krawallmacher - endlich einmal Tabus durchstößt, Formulierungen wagt, die bei uns wirklich verboten sind. Wir leben weit entfernt von Meinungsfreiheit, und ich halte es für den größten Witz der Diskussion, daß man immer wieder sagt ‘Wer hätte denn mehr Meinungsfreiheit als Sarrazin gehabt’. Das ist lächerlich. Zur Meinungsfreiheit gehört fundamental der Respekt vor Andersdenkenden. Und ich sehe nirgendwo auch nur den Ansatzpunkt von Respekt vor dem, was die, die nicht politisch korrekt denken, sagen und veröffentlichen. Und das fehlt unserer Diskussion dringend. Die Leute draußen merken das, und ich kann es ihnen voraussagen - es werden immer mehr. Ich bin fest davon überzeugt, daß dieses Buch eine Art Geschichtszeichen ist, nicht weil es so eine hohe Qualität hat, sondern weil es eine Auslöserfunktion hat. Die Leute lassen sich nicht länger für dumm verkaufen. Und sie lassen sich nicht länger zum Schweigen bringen. Das hat Sarrazin auf jeden Fall erreicht. Ob das geschickt war, ob das rassistisch war spielt keine Rolle. Das Entscheidende ist, daß die Leute nicht mehr bereit sind, sich von der politischen Klasse und von besonders arroganten neuen Jakobinern, auch in den Feuilletons, den Mund verbieten zu lassen. Und das ist ein riesengroßer Gewinn für unsere Gesellschaft.” 


Der Medienforscher Norbert Bolz am 5.9.2010 bei "Anne Will" in der ARD

Eckiger Ringturm


Der Ringturm, Wiens ältestes Hochhaus. Der Name wollte mir lange nicht einleuchten, aber natürlich können Türme auch eckig sein, und der Name kommt ganz einfach vom Standort am "Ring".

Samstag, 4. September 2010

Schatten, nichts weiter...

"Bei allen Seminaren und Psychotherapien der verflossenen 30 Jahre hat sich immer wieder der Schatten als entscheidender Punkt erwiesen. Wenn der Blick einmal entsprechend geweitet ist, stellt sich heraus, dass alles Scheitern von der individuellen Entwicklung bis zur Partnerschaft, aber auch in Wirtschaft und Politik, am Schatten liegt. 
Die Leidenschaft zu Projektion und damit Schuldverschiebung hat ebenso mit unbewältigtem Schatten zu tun, wie die verblüffende Fähigkeit so vieler Menschen, sich in entscheidenden Momenten selbst ein Bein zu stellen. Viele lassen sich von ihrem unbewältigten Schatten hindern, ihr volles Potential auszuschöpfen und so glücklich und genial, erfolgreich und gewinnend zu sein, wie sie eigentlich gemeint sind. Unbewältigter Schatten ist die Basis für unsere Krisen und Probleme im persönlichen und gesellschaftlichen Leben. Hier liegt die größte und ergiebigste Energie- und Kraftquelle, und sie liegt mitten in uns. „Das Schattenprinzip“ zeigt, wie viel Freude und Spaß es macht, sie freizulegen, etwa wenn die Schatten der Berufe gedeutet werden, Vorlieben für Filme oder Witze im Hinblick auf den Schatten zur Sprache kommen und vieles andere…"

Aus dem Newsletter des esoterischen Mediziners Rüdiger Dahlke, in dem er für sein neuestes Buch wirbt.

Schatten - so heißt das heute. Klingt viel neutraler als Sünde und Schuld. Viel natürlicher, viel unpersönlicher. Aus dem Schatten kann man heraustreten - aber Sünde und Schuld sind nicht einfach Räume, die wir hinter uns lassen könnten.

Donnerstag, 2. September 2010

Grafenegg


Im Namen der Sauberkeit

Wozu sind Ecken und Kanten gut, welchen Nutzen haben rechte Winkel im Grundriss einer Wohnung? Dort sammelt sich der Staub, so dass man ihn leichter aufsaugen kann.
Putzen ist ein Beitrag zur Ordnung der Welt, ein kleiner nahezu vergeblicher Puzzlestein in der Schlacht gegen die große Entropie, aber für den einzelnen Menschen doch ein erhebender Moment im Alltag. Nein? Doch nur eine Last? Vielleicht hilft diese grundsätzliche Betrachtungsweise, und das Putzen fällt.leichter.

Mittwoch, 1. September 2010

Grab in schwieriger Lage

Jahrestag

Jahrestag: Heute vor drei Jahren trat ich meinen Dienst hier auf der Pfarrstelle in Wien-Währing an. Viel, sehr viel hat sich seither in dieser Gemeinde verändert: Die Außenrenovierung der Lutherkirche ist geschafft, im Personalbereich haben sich viele erfreuliche Veränderungen ergeben, und die gesamte Stimmung innerhalb der Gemeinde hat sich von der Depression zu einer guten Aufbruchsstimmung verändert. Die personellen Veränderungen betreffen sowohl die Kanzlei wie auch das Presbyterium und den Kindergarten, der nun unter deutscher Leitung steht. Wie es mit meinem Kollegen weiter geht, weiß man nicht. Aber das ist nur ein kleiner Schatten in einem insgesamt lichtdurchfluteten Bild. So engagierte Mitarbeiter wie hier in Wien habe ich noch in keiner Kirchengemeinde erlebt, es ist einfach schön, hier Pfarrer sein zu dürfen.
Meine Tochter Margaretha hat einmal bemerkt, dass ich auf kaum einer Stelle in meinem Leben länger als dreieinhalb Jahre ausgehalten habe, und sie hat recht. So gesehen, wäre es für mich nun also schon wieder Zeit, mir über die Zukunft Gedanken zu machen. Und tatsächlich ist das ja auch so, nur nicht im Sinne von Überlegungen hinsichtlich einer Veränderung. In zwei Jahren läuft meine Beurlaubung in meiner deutschen Heimatkirche aus, und ich hoffe sehr, dass ich nach Ablauf dieser Frist von der österreichischen evangelischen Kirche auf Dauer übernommen werde und so meine verbleibende aktive Dienstzeit auf dieser Pfarrstelle werde verbringen können. Die Rückkehr ins Gemeindepfarramt war eine gute Entscheidung, der Wechsel nach Wien sowieso. In meinem ganzen Leben bin ich noch auf keiner Stelle so gerne gewesen, habe so inspiriert wirken können und so viel positives Feedback bekommen wir hier. Das Wohnen und Arbeiten im Dunstkreis der Hochkultur in der "Welthauptstadt der Musik", die relative Anonymität des Lebens in einer Großstadt, die diesen Namen verdient, und die Mentalität der hiesigen Bevölkerung – all das trägt enorm zu meinem seelischen Wohlbefinden bei.