"Wenn Klugheit vor allem Erfahrung ist, wem gebührt denn die Ehre dieses Beinamens mehr, dem Weisen, der teils aus Scham, teils aus Vorsicht nichts unternimmt, oder dem Törichten, den weder die Scham, die er nicht kennt, noch die Gefahr, die er nicht berücksichtigt, von irgend etwas abschrecken kann? Der Weise nimmt seine Zuflucht zu den Schriften der Alten und prägt sich da abgeschmackte Spitzfindigkeiten ein. Der Törichte greift einfach zu, schlägt sich mit den Dingen herum und gewinnt dabei die — wenn ich mich nicht täusche — wahre Klugheit. Das scheint Homer schon, so blind er auch war, bemerkt zu haben, wenn er sagt: „Die Wirklichkeit hat sogar der Törichte erkannt." Auf dem Wege der Lebenserfahrung gibt es nämlich hauptsächlich zwei Hindernisse, die Scham, die den Sinn umnebelt, und die Furcht, die die Gefahr zeigt und vom Abenteuer abrät. Die Torheit befreit uns davon gründlich.
(...)
Wie nichts törichter ist als unangebrachte Weisheit, so ist nichts weniger klug als verkehrte Klugheit. Verkehrt handelt nämlich, wer sich der augenblicklichen Lage nicht anpaßt und seine Fahne nicht nach dem Wind stellt, sich nicht wenigstens des Trinkspruches „Sauf oder lauf!" erinnert und fordert, daß das Spiel nicht mehr Spiel sei. Dagegen zeugt es für die rechte Klugheit, wenn du als Mensch nicht über deine Grenzen hinaus weise sein willst und mit dem gemeinen Haufen gern ein Auge zudrückst oder munter irrst. Das aber, sagen sie, sei gerade das Merkmal der Torheit. Ich will es nicht einmal abstreiten, nur sollen jene ihrerseits zugeben, daß man so das Bühnenstück des Lebens spielt."
Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit 7
500 Jahre alt, erstaunlich aktuell.
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